Ein Verrückter Baum
© Beatrix Caner – Alle Rechte vorbehalten
Mit dem Erzählband Bir Deli Ağaç (Ein verrückter Baum) wurde Pınar Kür als Novellistin über Nacht bekannt. Die in diesem Buch enthaltenen fünf Erzählungen brachten ihr in der Türkei sogleich den Ruf ein, eine meisterhafte Literatin zu sein. Tatsächlich ist sie heute eine der anspruchsvollsten Literaten der Türkei, trotz ihrer brisanten und provokativen Themen, noch immer im klassischen Sinne der literarischen Qualität verpflichtet.
Ein verrückter Baum ist ein Erzählband von höchster Qualität, zugleich in mehrerer Hinsicht eine literarische Köstlichkeit. Die fünf Erzählungen spielen alle im gleichen Haus, was sich allerdings nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern aus winzigen Hinweisen deutlich wird. Manche Bewohner tauchen in den unterschiedlichen Erzählungen aus völlig neuen Blickwinkeln auf, beinah kaum wiederzuerkennen, und sind je nach Perspektive mal eine böse, mal eine nette Person. Jede Erzählung hat eine andere Stimmung, einen anderen Tonfall, eine andere Sprache – alles Hinweise auf das Können von Pınar Kür.
Mit dem Band Ein verrückter Baum präsentieren wir deutschen Leserinnen und Lesern ein herausragendes Werk der zeitgenössischen türkischen Literatur.
„DAS UNSICHTBARE SEHEN“
Nachwort von Beatrix Caner
Pınar Kür (1943) ist in der zeitgenössischen türkischen Literatur eine besondere Persönlichkeit: ihr Schreibstil, ihre Themen und ihre unkonventionelle, aber konsequente Gesamthaltung haben ihren Ruf als große Literatin begründet. Ihre Romane behandeln politisch brisante Themen, sind aber - und das ist nicht nur in der türkischen Literatur eine Seltenheit - literarisch überaus anspruchsvoll.
Ihre Erzählungen sind, noch mehr als ihre Romane, landesweit bekannt und eine Kategorie für sich: neuartig, sensibel, experimentell und geheimnisvoll.
Als die Autorin in den 1970er Jahren in der Türkei debütierte, war die türkische Literatur von politisch aktuellen Themen dominiert. Die Literaten wie auch die Leser waren in zwei große ideologische Lager geteilt und scheinbar unversöhnlich gespalten. In jener stark politisierten und von immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen gezeichneten Phase wagte Pınar Kür etwas Brisantes: sie ließ den Blickwinkel von »Randfiguren« - an den Rand gedrängten oder dort freiwillig ausharrenden Menschen - und von »Etablierten« unmittelbar aufeinander treffen. Allerdings entsprechen »Randfiguren« und »Etablierte« bei Pınar Kür nicht den üblichen Klischees und sind auch keine typischen Vertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, einer religiösen oder ethnischen Gruppe oder aber der Nomenklatura und passen nicht in die einfache, schwarz-weiße Weltsicht vieler ihrer türkischen Schriftstellerkollegen. Wider Erwarten waren die Rollen ihrer Protagonisten und die Abläufe ihrer Geschichten - durch welche Weltsicht auch immer - nicht im voraus determiniert - wie in der damaligen türkischen Literatur vorherrschend gewesen - und dennoch von festen Koordinaten, die hinter den sichtbaren gesellschaftlichen Parametern ein festes Netz bilden, das viel wirksamer ist und subtil funktioniert, vorbestimmt. Sicher ist diese kluge und feine, philosophische und bewegende Attitüde der Schlüssel ihres großen Erfolges in der Türkei. In ihrem Nonkonformismus liegt aber auch der Grund dafür, dass ihre Bücher immer wieder Opfer der Zensur wurden und die Autorin vor Gericht ihre Werke verteidigen musste. Zum Glück gingen alle Prozesse stets mit einem Freispruch aus. Das Gegengewicht bilden eine Reihe von Anerkennungen und hohen literarischen Preisen, die Pınar Kürs literarisches Wirken würdigen und honorieren.
Diese oben skizzierte, typische literarische Haltung kommt in allen Werken der Autorin zum tragen. m vorliegenden Erzählband „Ein verrückter Baum“ stehen die menschlichen, emotionalen Perspektiven mehr im Vordergrund als in ihren Romanen und die politischen Realitäten wirken nur ansatzweise und aus dem Hintergrund.
Die fünf Geschichten im Band „Ein verrückter Baum“ sind keine beliebig erzählten »Stories« aus Istanbul, die man als einfache Unterhaltung lesen sollte, denn sie werden von etwas Latentem und »Wesentlichem« getragen, das die Grenzen der Literatur und also dieser Erzählungen übersteigt. Wohl deshalb reichen sie in unser Leben unmittelbar hinein, wühlen uns sogar auf und verändern uns.
Zwareröffnet sich nicht auf dem ersten Blick, dass alle Geschichten im gleichen Haus spielen. Man könnte trotzdem den Eindruck gewinnen, dass das die eigentliche, die wesentliche Verbindung der Erzählungen ist. Doch ist dieses ungewöhnliche, alte, tapfer verfallende Haus lediglich eine passive Kulisse, die dem Leben seiner Bewohner einen gut erkennbaren, äußeren Rahmen liefert - es bildet aber nicht dessen Grundlagen. Viel wichtiger ist, dass die Menschen aus den einzelnen Erzählungen uns in wiederum anderen Erzählungen aus anderen Perspektiven begegnen und aus der Schilderung einer anderen Figur in einem ganz anderen Licht erscheinen.
So ist etwa Sükran Hanım, die in der Erzählung „Die Violine in den Sommernächten“ als eine beinahe bösartige Klatschtante erscheint, in der Erzählung „Abschiedslied“ zunächst aus der Sicht der eigenen Tochter als eine beinahe einfältige Frau, die keine Beachtung verdient, am Ende aber, als ihre Lebensgeschichte offenbar wird, eine starke Persönlichkeit, die wenn nicht unbedingt Respekt, so doch mindestens Verständnis und Mitgefühl verdient. So verwandelt sich die unsympathische Alte in einen Menschen mit Haltung und Würde.
»Verwandlung« ist eines der wichtigen Stichworte, um die sich diese fünf sensiblen Erzählungen anordnen lassen - zumindest eine der möglichen Lesarten kann dieser Begriff bestimmen. Die Protagonistin der Erzählung „Die Violine in den Sommernächten“ erlebt auch eine Verwandlung - von der lebensmüden, ja todessehnsüchtigen alten Frau zu einem tief fühlenden, Sympathie ausstrahlenden, verständnisvollen und lebensbejahenden Menschen.
Aber nicht alle Verwandlungen sind erfreulich. Das Mädchen aus der Titelgeschichte „Ein verrückter Baum“ zerbricht an der Härte ihrer kleingeistigen, gefühlskalten und egoistischen Umgebung, die Mutter des Hochstaplers in „Alle sind mir Feind“ begeht aus Einsamkeit Selbstmord und die junge Frau aus „Taksim-Maçka“, die in einem Park jeden Tag einem glücklichen Ehepaar begegnet, findet zwar für kurze Zeit die Liebe, wird aber von dieser enttäuscht, so dass sie ihren Halt im Leben verliert und sich völlig gehen lässt.
Das Fazit scheint einfach und allgemeingültig zu sein: Die Taten der Menschen haben Auswirkungen - manchmal solche, die sie selbst nachvollziehen können und die beabsichtigt sind, aber auch eine ganze Reihe solcher, die unbemerkt, im Stillen und im Schatten der »eigentlichen« Ereignisse einfach so geschehen.
In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie weit die Menschen tatsächlich Schmiede ihres eigenen Glücks sind - sein können - und wie weit ihr Leben von völlig unvorhersehbaren - so große Begriffe wie „schicksalhaft“ brauchen wir gar nicht zu bemühen - Ereignissen auf eine neue Laufbahn gelenkt werden? Wie »real« ist ihr Leben, wenn sie in den Augen eines jeden Menschen so anders erscheinen? Ergäben die möglichen Antworten vielleicht Anhaltspunkte für eine andere Lesart - eine Lesart, die tiefer geht und zu grundsätzlicheren Fragen der Existenz führen könnte?
Ich hoffe, dass die Erzählungen von Pınar Kür nicht nur Freude machen, nicht nur Erkenntnisse liefern werden, sondern auch einige Anhaltspunkte, die es lohnend machen, sich auf Spurensuche nach ihrem tieferen Sinn zu begeben.
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© Beatrix Caner – Alle Rechte vorbehalten
Mit dem Erzählband Bir Deli Ağaç (Ein verrückter Baum) wurde Pınar Kür als Novellistin über Nacht bekannt. Die in diesem Buch enthaltenen fünf Erzählungen brachten ihr in der Türkei sogleich den Ruf ein, eine meisterhafte Literatin zu sein. Tatsächlich ist sie heute eine der anspruchsvollsten Literaten der Türkei, trotz ihrer brisanten und provokativen Themen, noch immer im klassischen Sinne der literarischen Qualität verpflichtet.Ein verrückter Baum ist ein Erzählband von höchster Qualität, zugleich in mehrerer Hinsicht eine literarische Köstlichkeit. Die fünf Erzählungen spielen alle im gleichen Haus, was sich allerdings nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern aus winzigen Hinweisen deutlich wird. Manche Bewohner tauchen in den unterschiedlichen Erzählungen aus völlig neuen Blickwinkeln auf, beinah kaum wiederzuerkennen, und sind je nach Perspektive mal eine böse, mal eine nette Person. Jede Erzählung hat eine andere Stimmung, einen anderen Tonfall, eine andere Sprache – alles Hinweise auf das Können von Pınar Kür.
Mit dem Band Ein verrückter Baum präsentieren wir deutschen Leserinnen und Lesern ein herausragendes Werk der zeitgenössischen türkischen Literatur.
„DAS UNSICHTBARE SEHEN“
Nachwort von Beatrix Caner
Pınar Kür (1943) ist in der zeitgenössischen türkischen Literatur eine besondere Persönlichkeit: ihr Schreibstil, ihre Themen und ihre unkonventionelle, aber konsequente Gesamthaltung haben ihren Ruf als große Literatin begründet. Ihre Romane behandeln politisch brisante Themen, sind aber - und das ist nicht nur in der türkischen Literatur eine Seltenheit - literarisch überaus anspruchsvoll.
Ihre Erzählungen sind, noch mehr als ihre Romane, landesweit bekannt und eine Kategorie für sich: neuartig, sensibel, experimentell und geheimnisvoll.Als die Autorin in den 1970er Jahren in der Türkei debütierte, war die türkische Literatur von politisch aktuellen Themen dominiert. Die Literaten wie auch die Leser waren in zwei große ideologische Lager geteilt und scheinbar unversöhnlich gespalten. In jener stark politisierten und von immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen gezeichneten Phase wagte Pınar Kür etwas Brisantes: sie ließ den Blickwinkel von »Randfiguren« - an den Rand gedrängten oder dort freiwillig ausharrenden Menschen - und von »Etablierten« unmittelbar aufeinander treffen. Allerdings entsprechen »Randfiguren« und »Etablierte« bei Pınar Kür nicht den üblichen Klischees und sind auch keine typischen Vertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, einer religiösen oder ethnischen Gruppe oder aber der Nomenklatura und passen nicht in die einfache, schwarz-weiße Weltsicht vieler ihrer türkischen Schriftstellerkollegen. Wider Erwarten waren die Rollen ihrer Protagonisten und die Abläufe ihrer Geschichten - durch welche Weltsicht auch immer - nicht im voraus determiniert - wie in der damaligen türkischen Literatur vorherrschend gewesen - und dennoch von festen Koordinaten, die hinter den sichtbaren gesellschaftlichen Parametern ein festes Netz bilden, das viel wirksamer ist und subtil funktioniert, vorbestimmt. Sicher ist diese kluge und feine, philosophische und bewegende Attitüde der Schlüssel ihres großen Erfolges in der Türkei. In ihrem Nonkonformismus liegt aber auch der Grund dafür, dass ihre Bücher immer wieder Opfer der Zensur wurden und die Autorin vor Gericht ihre Werke verteidigen musste. Zum Glück gingen alle Prozesse stets mit einem Freispruch aus. Das Gegengewicht bilden eine Reihe von Anerkennungen und hohen literarischen Preisen, die Pınar Kürs literarisches Wirken würdigen und honorieren.
Diese oben skizzierte, typische literarische Haltung kommt in allen Werken der Autorin zum tragen. m vorliegenden Erzählband „Ein verrückter Baum“ stehen die menschlichen, emotionalen Perspektiven mehr im Vordergrund als in ihren Romanen und die politischen Realitäten wirken nur ansatzweise und aus dem Hintergrund.
Die fünf Geschichten im Band „Ein verrückter Baum“ sind keine beliebig erzählten »Stories« aus Istanbul, die man als einfache Unterhaltung lesen sollte, denn sie werden von etwas Latentem und »Wesentlichem« getragen, das die Grenzen der Literatur und also dieser Erzählungen übersteigt. Wohl deshalb reichen sie in unser Leben unmittelbar hinein, wühlen uns sogar auf und verändern uns.
Zwareröffnet sich nicht auf dem ersten Blick, dass alle Geschichten im gleichen Haus spielen. Man könnte trotzdem den Eindruck gewinnen, dass das die eigentliche, die wesentliche Verbindung der Erzählungen ist. Doch ist dieses ungewöhnliche, alte, tapfer verfallende Haus lediglich eine passive Kulisse, die dem Leben seiner Bewohner einen gut erkennbaren, äußeren Rahmen liefert - es bildet aber nicht dessen Grundlagen. Viel wichtiger ist, dass die Menschen aus den einzelnen Erzählungen uns in wiederum anderen Erzählungen aus anderen Perspektiven begegnen und aus der Schilderung einer anderen Figur in einem ganz anderen Licht erscheinen.
So ist etwa Sükran Hanım, die in der Erzählung „Die Violine in den Sommernächten“ als eine beinahe bösartige Klatschtante erscheint, in der Erzählung „Abschiedslied“ zunächst aus der Sicht der eigenen Tochter als eine beinahe einfältige Frau, die keine Beachtung verdient, am Ende aber, als ihre Lebensgeschichte offenbar wird, eine starke Persönlichkeit, die wenn nicht unbedingt Respekt, so doch mindestens Verständnis und Mitgefühl verdient. So verwandelt sich die unsympathische Alte in einen Menschen mit Haltung und Würde.
»Verwandlung« ist eines der wichtigen Stichworte, um die sich diese fünf sensiblen Erzählungen anordnen lassen - zumindest eine der möglichen Lesarten kann dieser Begriff bestimmen. Die Protagonistin der Erzählung „Die Violine in den Sommernächten“ erlebt auch eine Verwandlung - von der lebensmüden, ja todessehnsüchtigen alten Frau zu einem tief fühlenden, Sympathie ausstrahlenden, verständnisvollen und lebensbejahenden Menschen.
Aber nicht alle Verwandlungen sind erfreulich. Das Mädchen aus der Titelgeschichte „Ein verrückter Baum“ zerbricht an der Härte ihrer kleingeistigen, gefühlskalten und egoistischen Umgebung, die Mutter des Hochstaplers in „Alle sind mir Feind“ begeht aus Einsamkeit Selbstmord und die junge Frau aus „Taksim-Maçka“, die in einem Park jeden Tag einem glücklichen Ehepaar begegnet, findet zwar für kurze Zeit die Liebe, wird aber von dieser enttäuscht, so dass sie ihren Halt im Leben verliert und sich völlig gehen lässt.
Das Fazit scheint einfach und allgemeingültig zu sein: Die Taten der Menschen haben Auswirkungen - manchmal solche, die sie selbst nachvollziehen können und die beabsichtigt sind, aber auch eine ganze Reihe solcher, die unbemerkt, im Stillen und im Schatten der »eigentlichen« Ereignisse einfach so geschehen.
In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie weit die Menschen tatsächlich Schmiede ihres eigenen Glücks sind - sein können - und wie weit ihr Leben von völlig unvorhersehbaren - so große Begriffe wie „schicksalhaft“ brauchen wir gar nicht zu bemühen - Ereignissen auf eine neue Laufbahn gelenkt werden? Wie »real« ist ihr Leben, wenn sie in den Augen eines jeden Menschen so anders erscheinen? Ergäben die möglichen Antworten vielleicht Anhaltspunkte für eine andere Lesart - eine Lesart, die tiefer geht und zu grundsätzlicheren Fragen der Existenz führen könnte?
Ich hoffe, dass die Erzählungen von Pınar Kür nicht nur Freude machen, nicht nur Erkenntnisse liefern werden, sondern auch einige Anhaltspunkte, die es lohnend machen, sich auf Spurensuche nach ihrem tieferen Sinn zu begeben.
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